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Konfliktforscherin Deitelhoff: Ukraine-Krieg könnte sich noch Jahre hinziehen


Der Ukraine-Krieg könnte sich nach Meinung der Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff noch über Jahre hinziehen. Eine rasche Aufnahme des Landes in die Nato erwartet sie nicht, jedoch weitere Hilfszusagen auf dem Nato-Gipfel. Obwohl sie den Wunsch der Ukrainer nach Streumunition versteht, ist die Frankfurter Professorin gegen eine Lieferung dieser Munitionsart.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj setzt sich schon seit längerem für einen Nato-Beitritt ein. Nächste Woche gibt’s den Nato-Gipfel in Litauen. Wie aussichtsreich und realistisch ist denn die Aufnahme der Ukraine?

Nicole Deitelhoff: Ich halte eine Aufnahme der Ukraine in die Nato gegenwärtig für nicht sehr realistisch und aussichtsreich. Dafür gibt es einfach zu viele Uneinigkeiten und Unstimmigkeiten zwischen den Nato-Mitgliedsländern. Wir haben die osteuropäischen Mitgliedsländer und die baltischen Staaten, die ganz stark für eine zeitnahe Aufnahme in die Nato sind. Aber wir haben bei Staaten wie Deutschland oder den USA viele Widerstände gegen eine solche zeitnahe Aufnahme. Und zugleich gibt es auch im Nato-Vertrag Vorkehrungen, die eine rasche Aufnahme verhindern. Ich glaube, was wir sehen werden, sind Sicherheitszusagen an die Ukraine, die den Weg in die Nato ebnen werden.

Wie bewerten sie denn die Beitrittsbemühungen der Ukraine?

Aus Sicht der Ukraine ist es natürlich vollkommen verständlich, dass man so schnell wie möglich in die Nato möchte und damit natürlich unter den Artikel 5, die Beistandsgarantie. Aber es ist ebenso verständlich, dass die anderen Nato-Mitgliedsländer das in Ruhe diskutieren und schauen müssen, was sind Probleme, die sich daraus ergeben könnten? Hier geht es vor allen Dingen darum, der Ukraine Möglichkeiten an die Hand zu geben, sich selbst zu verteidigen – über bilaterale Sicherheitszusagen beispielsweise – und sie gleichzeitig schon jetzt auf die Nato-Standards im Bereich Ausrüstung und Ausbildung zu bringen, sodass zukünftig einem Nato-Beitritt nichts mehr im Wege steht.

Was erwarten Sie sich konkret vom Nato-Gipfel?

Ich glaube, dass auf dem Nato-Gipfel verschiedene Mitgliedsländer solche Zusagen machen werden. Das können Zusagen im Bereich der Ausrüstung, der Lieferung von bestimmtem Gerät und nachrichtendienstlichen Services sein. Das kann die Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte sein. Da sind ganz unterschiedliche Möglichkeiten da, die zusammen ein Paket ergeben, mit dem die Ukraine auch in den kommenden Jahren in der Lage sein wird, sich gegen eine russische Aggression zu wehren.

Sie sehen eine Doppelstrategie: Auf der einen Seite die Ukraine vor allem militärisch stärken und gleichzeitig Friedensbemühungen nicht aus dem Blick verlieren. Ist das nicht ein Widerspruch?

Ich glaube tatsächlich, beide Elemente gehören ganz eng zusammen. Wir haben es mit einem Krieg zu tun, bei dem beide Seiten noch nicht bereit sind, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Und das heißt, wir müssen eine Situation erzeugen, in der das wahrscheinlich wird. Und das ist nach allem, was wir in den vergangenen anderthalb Jahren gesehen haben, eigentlich nur durch eine militärische Schwächung insbesondere der russischen Seite möglich. Das heißt, diesen Zustand müssen wir erreichen können. Das geht nur, indem man die Ukraine nachhaltig unterstützt, sowohl in militärischer Hinsicht als auch in ökonomischer und politischer Hinsicht. Zugleich muss man dann aber auch diesen Moment vorbereiten, in dem es zu Verhandlungen kommen könnte. Und das heißt, schon jetzt muss darüber nachgedacht werden, mit wem will man verhandeln? Über was kann man eigentlich verhandeln? Und was könnten auch mögliche Ergebnisse sein?

Wie bewerten Sie eine Lieferung von Streumunition an die Ukraine?

Ich kann durchaus verstehen, warum die Ukraine gerne Streumunition hätte. Das würde ihr die Offensive, die sie momentan fährt, enorm erleichtern, weil einfach die russische Seite ihre Verteidigungsstellung über Kilometer tief im Raum gestaffelt hat. Mit Streumunition könnte man natürlich sehr viel effektiver versuchen, durch diese Linie zu stoßen. Zugleich gibt es einfach sehr, sehr gute Gründe, warum Streumunition international geächtet ist. Wir haben einfach das Problem, dass wir dabei einen sehr hohen Prozentsatz an Blindgängern haben, die noch Jahre später Zivilisten verletzen und töten, insbesondere Kinder. Von daher bin ich absolut gegen die Lieferung von Streumunition. Ich kann nur die Beweggründe verstehen, warum man sie fordert.

Wie sehen sie denn die Rolle Deutschlands in diesem Konflikt?

Ich glaube, Deutschland hat sich, auch wenn es viele vielleicht am Anfang gar nicht erwartet haben, zu einem der stärksten und nachhaltigsten Unterstützerländer der Ukraine entwickelt. Es ist heute, glaube ich, der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine. Und zugleich glaube ich, könnte Deutschland auch im Bereich von Friedensinitiativen, der Vorbereitung von Friedensverhandlungen eine Rolle spielen. Etwa, indem es seine Erfahrung in der zivilen Krisenprävention nutzt, um zu versuchen, eine internationale Kontaktegruppe aufzustellen, oder im Auswärtigen Amt bestimmte Konfliktgegenstände vorzubereiten.

Vor ein paar Wochen haben Sie ein Gutachten veröffentlicht. Seine Kernbotschaft: Es ist noch lange kein Frieden in Sicht! Wenn Sie von “lange” sprechen, von welchem Zeitraum gehen sie denn da aus?

Aus der Kriegsursachenforschung wissen wir: Wenn zwischenstaatliche Kriege nicht innerhalb der ersten drei bis sechs Monate durch Sieg oder Niederlage beendet werden, nehmen sie zumeist eine lange Dauer an. Das heißt, wenn wir über aktive Kriegshandlungen sprechen, mindestens ein bis zwei Jahre. Und die gehen dann auch in einen Zustand von heißen und kalten Phasen über, die dann auch mehrere Jahre andauern können. Gerade mit Blick auf die Ukraine erwarten wir einen Verlauf, wo wir zwischendrin sehr heiße Phasen mit aktivem Kriegsgeschehen haben. Dann ein Runterkühlen, in dem sich beide Kriegsparteien erholen müssen. Und wenn diese Erholungsphase durchschritten ist und Ressourcen wieder da sind, auch wieder ein Aufflammen der Feindseligkeiten. Und das könnte sich tatsächlich über Jahre hinweg ziehen.

Was müsste denn aus ihrer Sicht passieren, um diesen Konflikt zu lösen?

Man muss sich klarmachen, dass viele Konflikte kurz und mittelfristig nicht lösbar sind, in dem Sinne, dass man die Ursachen beheben könnte, sondern, dass es vor allen Dingen darum geht, sie zu managen. Das heißt, wir müssen zunächst versuchen, ein Ende der aktiven Kriegshandlungen zu erreichen, die Ukraine in ihrer territorialen Integrität wiederherzustellen und auch sicherzustellen, dass sie danach nicht wieder angegriffen werden kann. Darum geht es im Grunde genommen. Und dann wird es wahrscheinlich noch Jahrzehnte dauern, bis man die tatsächlichen Konfliktursachen lösen kann.

Wie ist denn ihre Definition von Frieden? Reicht da die Abwesenheit von militärischer Gewalt?

Nein, das ist das, was wir in der in der Wissenschaft als sogenannten negativen Frieden bezeichnen – also einfach nur die Abwesenheit von systematischer Gewaltanwendung. Ich würde immer noch sagen, es ist besser als gar nichts. Aber natürlich wollen wir etwas, das darüber hinausgeht. Das brauchen wir auch. Denn allein ein Waffenstillstandsabkommen, das nur die Kriegshandlung beendet, wird den Frieden auf Dauer nicht sichern können. Das ist auch etwas, was wir aus Jahrzehnten der Forschung wissen. Die reine Abwesenheit von Kriegshandlungen kann dauerhaft nicht den Frieden sichern, sondern sie muss begleitet werden von der Aufarbeitung von Kriegsverbrechen, von Wiederaufbaumaßnahmen und natürlich auch – und das dauert einfach teilweise eine ganze Generation – von Versöhnung zwischen den vormaligen Konfliktparteien.

Quelle: MDR

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