Laut einer EU-Studie könnten kühlere Urlaubsregionen in Europa künftig dauerhaft vom Klimawandel profitieren. Skandinavische Länder haben schon begonnen, ihre Tourismus-Werbung darauf auszurichten.
Mit Eispickel und Steigeisen im Gänsemarsch: So kämpft sich eine Gruppe Touristen den norwegischen Gletscher Nigardsbreen hinauf. Der Blick hinunter ins Tal: tiefgrünes Wasser im Gletschersee, unzählige Wasserfälle auf schroffen Felswänden. Der Wind ist kühl, bei knapp zehn Grad Temperatur, aber die Höhensonne wärmt die Gesichter.
Für Hanneke Bechthum aus den Niederlanden ein perfekter Tag in ihrem Sommerurlaub. Sie sagt: “Natürlich wollen die die meisten Leute immer noch immer in die Sonne. Aber Spanien oder Italien um diese Jahreszeit? Da ist es immer heißer geworden und ich halte es dort ehrlich gesagt nicht mehr aus.”
Damit gehört Bechthum, die mit einer Freundin und beiden ihren Söhnen die Gletscher-Wanderung gebucht hat, zu einer stetig wachsenden Gruppe von Urlaubern. Tourguide Steinar Bruheim führt seit mehr als 40 Jahren Touristen auf Gletscher Nigardsbreen. Er hat eine eigene Bezeichnung für Urlauberinnen wie Hanneke Bechthum gefunden: “Wir nennen sie ‘Klimatouristen’, weil sie vor der Hitze Südeuropas fliehen. Deshalb kommen sie im Sommer zu uns nach Skandinavien. Obwohl wir hier vielleicht nur 15 Grad haben und ganz schön viel Regen.”
Massiver Anstieg der Touristenzahlen
Nicht nur am Nigardsbreen in Norwegen beobachtet man diese Entwicklung. Auch auf schwedischen Campingplätzen wächst die Zahl der Urlauber aus dem Ausland, die den gemäßigten Sommer Skandinaviens bevorzugen. Zu ihnen gehören Karin und Janek Struwe aus Brandenburg, die für kurze Zeit auf dem Campingplatz Säter drei Stunden nordwestlich von Stockholm Station mit ihrem Campingbus machen.
Früher haben sie ihre Sommerferien als Familie auch am Mittelmeer verbracht. Inzwischen ist es ihnen dort zu heiß, wie Karin Struwe berichtet: “Abartig warm. Man kann nichts machen, ständig Kopfbedeckung tragen, sich ständig eincremen. Das macht einfach keinen Spaß.” Das ist heute in Säter ganz anders. Es ist 19 Grad warm, zwischendurch zieht ein kräftiger Regenschauer über den Platz.
Campingplatzbetreiber Bert de Vries berichtet von einer Steigerung seiner ausländischen Gäste um 20 Prozent bislang in diesem Jahr. “Wir fragen unsere Gäste: ‘Sind Sie zum ersten Mal in Schweden?’ Viele sagen: ‘Ja. Früher sind wir schon in den Süden gereist. Doch jetzt ist es heiß ist oder es gibt Überschwemmungen.’ Deshalb entscheiden sich immer mehr für Skandinavien”, berichtet de Vries und ist recht zufrieden von der Entwicklung.
Kühles Wetter als Marketing-Faktor
Unter dem Schlagwort “Coolcation” – in Anlehnung an den englischen Betriff “Vacation”, also Urlaub – hat die staatliche schwedische Tourismusagentur “Visit Sweden” begonnen, den Trend zu vermarkten. Die Unternehmenschefin Susanne Andersson sagt dazu: “Wir haben auf unseren Webseiten hervorgehoben, was man in Schweden erleben kann, um Kunden anzusprechen, die an “Coolcation”-Urlauben interessiert sind. Und das hat dazu geführt, dass wir bei internationalen Suchanfragen zu “Coolcation” sehr, sehr weit oben stehen. Schweden ist dort heute die Nummer eins.”
Nicht allen im Land gefällt das. Schon jetzt ächzen beliebte Regionen gerade in den Sommermonaten unter den Folgen des Massentourismus. In Schweden diskutiert man außerdem die Frage, ob das Land auf diese Weise Profit aus dem Klimawandel schlagen dürfe.
Aus der Entwicklung könnte nach einer Studie der Europäischen Union in den nächsten Jahren ein stetiger Trend werden. Anhand von Daten aus 269 europäischen Regionen wurden die Auswirkungen aktueller klimatischer Bedingungen auf die Touristenströme ausgewertet. Fazit der Studie: “Wir stellen ein klares Nord-Süd-Muster bei den Veränderungen der Tourismusnachfrage fest. Die nördlichen Regionen profitieren vom Klimawandel, während die südlichen Regionen mit erheblichen Rückgängen der Tourismusnachfrage konfrontiert sind”, heißt es in der Untersuchung.
“Es ist paradox”
Am Gletscher in Norwegen zeigt Bergführer Bruheim auf die freigelegten Felsrücken unterhalb des Gletschers. “Vor zwanzig Jahren zog sich der Gletscher noch weit runter ins Tal”, erinnert sich Bruheim. Er warnt vor den Folgen des eines ungebremsten Tourismus. “Wir haben der Tourismusindustrie in Norwegen gesagt: ‘Macht kein Marketing mehr in Asien!’ Denn es ist paradox: Sie wollen die Gletscher sehen, bevor sie verschwinden. Doch wenn immer mehr mit dem Flieger kommen, wird der Einfluss auf den Klimawandel größer. Und damit auch die Bedrohung des Gletschers.”
Ein Massentrend scheint die “Coolcation” noch nicht zu sein; dennoch zeigen sich schon jetzt in Skandinavien die Folgen des Klimawandels für den Tourismus in Europa. Und die dürften sich in den kommenden Jahren vor allem im Sommer weiter verstärken.